»Das Gebiet des Sittlichen ist weit, es umfaßt auch das Unsittliche.« Aus diesen Zeilen spricht die Besturzung eines Mannes, der, wie wir heute wissen, seine eigene Homosexualitat lebenslang unterdruckt hat: »Ich bescheinige Ihnen unumwunden, dass die Gedichte erschutternd unzuchtig sind.« Thomas Mann bezieht sich auf die freimutige Beschreibung homosexueller Szenen bei Paul Verlaine, den er als Lyriker grundsatzlich außerordentlich schatzte. Der Verleger Paul Steegemann hatte ihm zwei Gedichtbande Verlaines, Frauen und Manner, vor der Veroffentlichung zugesandt und um eine Stellungnahme gebeten. Datiert ist das Schreiben auf den 18. August 1920, ein Abdruck ergab sich zunachst nicht. Erst ein Dreivierteljahr spater erbat Mann den Brief zuruck und veroffentlichte ihn im Rahmen von Reden und Aufsatze (1922).