Es ist Tradition deutschen Rechtsdenkens, in Krisenzeiten die Wiederkehr des abendlandischen Naturrechts zu beschworen. Was aber das Naturrecht sei, wird nicht ausreichend bedacht. Schuld hieran tragt die Ungenauigkeit des neuzeitlichen Naturbegriffs. Sie widerspricht der Genauigkeit des Denkens Aristoteles', dem »Vater« des Naturrechtsgedankens. Der Verfasser der »Metaphysik«, einem der Ausgangsbucher der abendlandischen Philosophie, konnte das Recht nicht auf die Natur grunden, wie der Begriff »Naturrecht« es nahelegt, weil es in der Antike »die Natur« als solche nicht gab. Was spater im Lateinischen »die Natur« genannt wurde, konnte nur deshalb in den Vorstellungsraum eintreten, weil zuvor Aristoteles im Recht die ursprunglichste aller Ordnungen erkannt hatte. Damit wurde er zum konservativen Revolutionar des griechischen Denkens. Er setzte dem Phantasma der von Parmenides begrundeten Ontologie, auf die sich »das Abendland« grunden sollte, eine altere Tradition entgegen: die eurasische Gnosis. Das Naturrecht grundet nicht das Recht auf die Natur, sondern vielmehr die Natur auf das Recht. Es ruht nicht einem metaphysischen Grund auf, sondern ist die Waage im Ungrund. Das griechische Wort »Physis« meint anderes und mehr als »Natur«. In diesem Punkt knupft das »Naturrechtliche Fragment« an Heideggers Auslegung des Physis-Begriffs an. »Physis« und »Energeia«, »Kinesis« und »Entelecheia« - fur jedes dieser vier Grundworter der aristotelischen Metaphysik wird in Kollings Traktat ein deutsches Wort gesucht und gefunden, das den ursprunglichen Sinngehalt prazise abbildet. Im Zusammenspiel der vier Worter entsteht die erste und fur alle Zeiten pragende abendlandische Erkenntnis- und Rechtsfigur: die der Grenze. Europa ist Grenzland, das seine Ordnung auf die Figur der Grenze baut - oder es ist nicht. In der Denkfigur der Grenze besitzt die politische Organisation der Ordnung, die fur Europa zur Überlebensfrage geworden ist, ihr tiefstes und altestes Fundament. Europa ist Grenze, weil es der Westen des Ostens ist.