In dem Beitrag 'Individuelle und gesellschaftliche Ursprunge der Neurose' aus dem Jahr 1944 unterscheidet Erich Fromm erstmals zwischen einem gesellschaftlichem Defekt und einer Neurose der Vielen - eine Unterscheidung, die fur Fromms Verstandnis von Gesundheit und Krankheit sowie fur sein Konzept der 'Pathologie der Normalitat' von zentraler Bedeutung ist. Daruber hinaus enthalt dieser Beitrag eine Reihe anderer, fur Fromms spateres Denken wichtige Gedanken. So stellt er erstmals seine dialektische Wissenschaftstheorie vor, die davon ausgeht, dass jede Entdeckung notgedrungen auch Elemente der Entstellung der Entdeckung enthalt, so dass ihr wirklicher Gehalt erst durch eine 'konstruktive Neuinterpretation' oder - wie er spater sagen wird - eine 'Re-Vision' erkennbar wird.
Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ahnlich denken, fuhlen und handeln lasst. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritaren Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer starker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resumierte Fromm seine Erkenntnisse uber die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. Marz 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.