Seit dem 19. Jahrhundert steht fur die Geschichtsforschung fest, dass Karl der Große mit seinem Bruder derart zerstritten war, dass nur dessen fruher Tod den Ausbruch eines Bruderkriegs verhindert hat. Ebenso gehort es zum Wissen uber ihn, dass er seine erste Frau verstoßen hat, um die Tochter des Langobardenkonigs zu heiraten, die er dann ihrem Vater zuruckschickte, als die Ehe ihm aus machtpolitischen Grunden nicht mehr genehm war. Ich zeige auf, dass diese Forschungsergebnisse in erster Linie auf der Fantasie der Historiker bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts beruhen, die sich an Karl als einem Herrscher berauschten, der die effektive Machtentfaltung uber Recht und Moral gestellt hat. Spatere Historiker haben dieses Wissen, mit dem sie seit der ersten Vorlesung uber den Erneuerer des abendlandischen Kaisertums gefuttert worden waren, nicht mehr in Frage gestellt. Sie haben vielmehr versucht, dieses durch neue Indizien zu untermauern. Dabei haben sie die Quellen, die eigentlich das Fundament fur die Darstellung von Geschehenem sein sollten, ohne Rucksicht auf deren Aussagen so interpretiert, dass sie zu ihren Thesen passten. Ich habe versucht, dieses Vorwissen auszublenden und die Quellen vorurteilsfrei zu interpretieren. Dabei bin ich zu vollig gegensatzlichen Ergebnissen gekommen: Es ist hochst unwahrscheinlich, dass Karl und Karlmann bestandig verfeindet waren und kurz vor einem Bruderkrieg standen. Sie haben nicht, außenpolitisch gelahmt durch ihren Streit, die Italienpolitik ihres Vaters aufgegeben, der den Papst bestandig gegen den Langobardenkonig Desiderius unterstutzt haben soll. Vielmehr haben sie zusammen mit ihrer Mutter dessen Ausgleichspolitik nach seinem letzten Italienzug fortgesetzt. Karl hat nicht 770 die Tochter des Desiderius geheiratet, um einen Bundnispartner gegen seinen verhassten Bruder zu haben. Zu dieser Zeit durfte bereits Karlmann mit dieser verheiratet gewesen sein.